Geschichte wird gemacht: Über die Aktualität von Klasse, Klassenspaltung und Klassenkampf

NGOs wie Oxfam vermeldeten im Herbst 2015, dass noch in diesem Jahr ein Zustand erreicht sein wird, in dem das reichste Hundertstel der Weltbevölkerung mehr Reichtum angehäuft haben wird, als die restlichen 99 Prozent. »Die Armut in Deutschland hat mit einer Armutsquote von 15,4 Prozent ein neues Rekordhoch erreicht und umfasst rund 12,5 Millionen Menschen«, bilanziert der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Es scheint etwas nicht zu stimmen in dieser Gesellschaft, die so häufig beschrieben wird als eine, in der die sozialen Unterschiede eine geringe Rolle spielen. Ist in der Öffentlichkeit von Armut und Reichtum die Rede, ist es das höchste der Gefühle, die auseinandergehende Schere zwischen arm und reich anzusprechen. Doch die zentrale Ursache für Armut sehen die meisten bürgerlichen Politiker_innen und Journalist_innen im falschen Verhalten der Armen: Sogenannte bildungsferne Schichten würden das Sofa nur verlassen, um sich ein neues Bier zu holen und ansonsten ein Nickerchen in der sozialen Hängematte zu machen.

1. Klassenkampf von oben

Was ist dies für eine Gesellschaft, in der die Deklassierten als »sozial schwach« gelten? Auch wenn es gerne geleugnet wird: Wir leben in einer Klassengesellschaft und alle Institutionen der Gesellschaft und die Menschen selbst sind davon geprägt. Die veränderten Bedingungen der Kapitalverwertung in den 1970er Jahren kompensierte die Kapitalseite in den sogenannten Industriestaaten durch einen forcierten Klassenkampf von oben. Der sich zunehmend entwickelnde kapitalistische Weltmarkt führte zudem zu einer verschärften internationalen Konkurrenz. Vollends entfesselt wurde der Kapitalismus durch den Zusammenbruch des »realexistierenden Sozialismus«, der durch die relative Abschottung seiner Märkte dem Expansionsdrang der westlichen kapitalistischen Länder immerhin noch gewisse Grenzen setzen konnte. Die Kapitalseite intensivierte den Verwertungsdruck auf die Arbeiter_innenklasse, die Lohnquote sank, die Politik flexibilisierte den Arbeitsmarkt, Ungleichheit nahm zu. Ideologisch begleitet wurde dies durch die Propaganda vom »Ende der Geschichte«: Der Kapitalismus habe gesiegt, er sei alternativlos.

In den westlichen Industriestaaten wächst seitdem stetig der Anteil der »working poor«, der Menschen, die trotz mehrerer mies bezahlter Jobs nicht über die Runden kommen. Dazu kommen Leiharbeitsverhältnisse, informelle Arbeit, die Verwaltung der Reservearmee durch die Jobcenter und entsprechende Arbeitszwangsmaßnahmen, unbezahlte Praktika, Gefangenenarbeit und die als karitative Einrichtung kaschierte Ausbeutung von Menschen mit Behinderungen. Gleichzeitig werden sozialstaatliche Errungenschaften beschnitten und die öffentliche Daseinsvorsorge zur Ware gemacht. Einen wesentlichen Anteil an diesen Entwicklungen haben die sich gerne als »reformorientiert«, »sozial« und »alternativ« darstellenden Parteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Unter der rot-grünen Bundesregierung wurde 2003 bis 2005 die Agenda 2010 umgesetzt, durch die der Niedriglohnsektor und die Leiharbeit massiv ausgebaut wurden. Mittlerweile arbeiten fast ein Viertel der abhängig Beschäftigten in diesem Niedriglohnsektor. Durch dieses staatlich verordnete Lohndumping und die im Vergleich zu allen anderen EU-Ländern langsamer gewachsenen nominalen Lohnstückkosten konnte das exportorientierte Kapital international erhebliche Wettbewerbsvorteile erringen. Diese Entwicklungen verdeutlichen: Die herrschende Klasse verfügt im Gegensatz zur Arbeiter_innenklasse über ein sehr ausgeprägtes Klassenbewusstsein. Der Milliardär Warren Buffet brachte das wie kein anderer auf den Punkt, als er in einem Interview mit der New York Times im November 2006 sagte: »Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.«

2. Abkehr vom Klassenkampf

Ob der Klassenkampf von oben weiterhin so erfolgreich geführt werden kann wie in den vergangenen Jahrzehnten, hängt davon ab, ob die hiesige radikale Linke Mittel und Wege findet, einen Klassenkampf von unten zu organisieren. Momentan sieht es schlecht aus, denn das Interesse der Linken an Arbeitskämpfen ist marginal. Während die Kapitalseite bestens organisiert ist, wirkt bei der Arbeiter_innenklasse die Ideologie der Individualisierung und persönlichen Verantwortung. Für viele organisierte Linke stehen andere Themen im Vordergrund. Diese werden teilweise für den Kampf gegen Arbeiter_innen vereinnahmt. Die rotgrüne Bundesregierung 1998-2005 steht exemplarisch für die Kopplung gesellschaftspolitisch fortschrittlicher Positionen (Gleichstellungspolitik, Staatsbürgerschaftsrecht) mit zugespitzter Ausbeutung. Auch eigene Arbeitsverhältnisse werden von Linken heute selten kritisch betrachtet.

Die Perspektive Klassenkampf ging in Teilen der Linken seit den 1960er Jahren in Deutschland verloren. Für sie ist der Klassencharakter nicht mehr der Ausgangspunkt, um den bestehenden Verhältnissen zwischen arm und reich auf die Spur zu kommen. Dass der Interessensgegensatz zwischen Kapitalist_innen und Arbeiter_innen grundlegend für den Kapitalismus ist, ist heute auch in Teilen der Linken eine Meinung, mit der man sich lächerlich machen kann.

Warum Teile der Linken in der gegenwärtigen Gesellschaft keine Klassengesellschaft mehr erkennen wollen, hat verschiedene Gründe. Sicher spielt die soziale Zusammensetzung der Linken in Deutschland hier eine Rolle: Gerade seit den 1970er Jahren rekrutieren Linke ihren Nachwuchs vermehrt aus den Mittelklassen. Aber es sind vor allem objektive Gründe, die dazu führen, dass die Klassenperspektive schwerer einzunehmen ist: Erstens haben sich die Klassen verändert und neu zusammengesetzt, weswegen sie schwerer zu erkennen sind. Zweitens sind Arbeiter_innen in geringerem Ausmaß politisch organisiert, sie treten viel seltener auf, um ihr gemeinsames Interesse zum Ausdruck zu bringen. Drittens werden Arbeiter_innen erfolgreich desorganisiert, indem sie anhand verschiedener Unterschiede innerhalb einer Hierarchie (nach Herkunft, Geschlecht, Lohngruppe, Ausbildung, Aufenthaltsstatus) angeordnet werden. Viertens hat der Übergang von der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft die Vereinzelung der Arbeiter_innen begünstigt und Ansatzpunkte für kollektive Kämpfe verwischt.

Viele der Irrtümer im Zusammenhang mit dem vermeintlichen »Abschied vom Proletariat« beruhen auf Unklarheiten, was oder wer die Arbeiter_innenklasse eigentlich ist. Manche meinen, unter Arbeiter sei vor allem der weiße, männliche, unmittelbar körperliche Tätigkeiten vollziehende, klassenbewusste Proletarier des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Da man das Erscheinungsbild des schwitzenden, mit muskulösem Arm den Hammer auf den Amboss dreschenden Arbeiters in den entwickelten Industriegesellschaften des ausgehenden 20.Jahrhunderts dann seltener vorfand, glaubte man, die Arbeiter_innenklasse sei verschwunden.

3. Klasse

Doch die Klasse bestimmt sich nicht darüber, wie sie gerade erscheint. Es geht um die Stellung einer Klasse von Menschen in einem System der gesellschaftlichen Produktion. Grundlegend sind im Kapitalismus der Zwang, die eigene Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen, sowie die Ausbeutung. Ausbeutung meint mehr als eine Arbeit unter besonders miesen Bedingungen: Um den Mehrwert zu erhöhen, ist die Kapitalseite bestrebt, die Löhne zu senken und/oder möglichst viel Arbeitsleistung aus den Arbeitenden herauszuholen. Das wird möglich durch Verlängerung der Arbeitszeit (z.B. durch unbezahlte Überstunden) oder durch die Intensivierung der Arbeit, also durch Erhöhung des Leistungsdrucks, Personalreduzierung oder durch Einsatz produktiverer Maschinen und Verfahren. Wenn die Lohnarbeit nicht profitabel genug ist, beenden Kapitalist_innen das Lohnarbeitsverhältnis. Existenzunsicherheit ist somit ein ständiger Begleiter für alle Lohnabhängigen.
Da Zwang und Ausbeutung grundlegend sind, ist es unerheblich, ob moderne Arbeiter_innen schwitzen, ob sie mit einem Laptop, einem Wischmob oder einem Hammer ihrer Tätigkeit nachgehen. Dennoch ist die Definition von Arbeiter_innenklasse alles andere als einfach.

Wir finden, dass Lenin in seinem Werk »Die große Initiative« eine Klassendefinition entwickelt hat die auch heute noch nutzbar ist: »Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft.«

Wir haben hier mehrere Kriterien: Es muss sich zunächst um »große Menschengruppen« handeln. Diese unterscheiden sich voneinander durch ihr (sich in den Rechtsverhältnissen ausdrückenden) Verhältnis zu den Produktionsmitteln. Hier ist das für Marx entscheidende Kriterium des Eigentums bzw. Nichteigentums an den Produktionsmitteln enthalten. Klassen unterscheiden sich aber auch »nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit« sowie nach »Art der Erlangung« und »Größe« des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum. Infolge der unterschiedlichen Stellung in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion kann sich eine Klasse die Arbeit der anderen aneignen.

Diese Definition bietet ausreichend Möglichkeiten zur Differenzierung. Weder bezieht sie sich allein auf das Industrieproletariat, noch schließt sie Manager_innen oder leitende Angestellte ein. Mit dieser Klassendefinition haben wir also einige Richtlinien, mittels derer wir die Arbeiter_innenklasse genauer bestimmen können: Ihre Angehörigen sind nicht im Besitz von Produktionsmitteln, müssen also ihre Arbeitskraft verkaufen, um ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Sie sind zudem nicht in leitenden Funktionen zu finden, die die Überwachung und Gestaltung des Produktionsprozesses steuern und dadurch eine (gesellschaftliche) Machtposition verleihen. Sie eignen sich den gesellschaftlich produzierten Mehrwert nicht an, sondern schaffen diesen. Die so ausgeschlossenen Tätigkeiten sind zum Teil Tätigkeiten der »lohnabhängigen Mittelklassen«, des Kleinbürgertums oder der Bourgeoisie. Zur Arbeiter_innenklasse zählen indes auch diejenigen, die dem (primären) Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen oder ganz aus dem Verwertungskreislauf herausfallen, wie Gefangene, Obdachlose, Schulabbrecher, Kriminelle, prekäre Handwerker und Scheinselbstständige.

4. Klassenspaltungen

Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft ist in ideologischer Hinsicht sehr geschickt darin, alle gegen alle auszuspielen, die Konkurrenz untereinander zu fördern und zu einer Entsolidarisierung beizutragen, um gemäß dem Prinzip »teile und herrsche« den Status quo zu sichern. Es sind dabei nicht nur Ideologien, die die Arbeiter_innenklasse daran hindern, ihr gemeinsames Interesse zu erkennen und sich zu organisieren. Der Kapitalismus bildet eine Vielzahl von Klassenfraktionen heraus, die strukturell in Konkurrenz zueinander stehen. Es geht dabei um nichts anderes als die Fragmentierung der Arbeiter_innenklasse: Wenn unterschiedliche Fraktionen der Arbeiterklasse hierarchisiert und aufgespalten werden, entstehen unterschiedliche Klassenlagen. Beispiele dafür sind die meist schlechter bezahlten "frauentypischen" Berufe, die Stellung von (Arbeits-)Migrant_innen sowie die der Arbeiter_innen in Peripherie-Staaten.

4.1 Nicht-Entlohnung und Abwertung von Frauenarbeit

Sozialistische Feministinnen haben früh auf die Trennung zwischen Lohn- und Hausarbeit hingewiesen. Die kapitalistische Produktionsweise basiert bisher zentral auf der Aneignung unentlohnter Frauenarbeit: ob zur Reproduktion der Arbeiter_innenschaft oder zur Regeneration des einzelnen Arbeiters und anderer (oft schwächerer, weil sehr alter oder sehr junger) Mitglieder der Gesellschaft. Das Fließband endet also nicht vor den Türen der Arbeiterwohnungen: Was in den Arbeiterwohnungen gearbeitet wird, ist selbst die Voraussetzung für jegliche mehrwertproduzierende Arbeit.

Die Kapitalseite eignet sich in besonderer Weise die Arbeit von Frauen an. Sogenannte Frauenberufe sind schlechter entlohnt als »Männerberufe« und bei gleicher Qualifikation und Anstellung verdienen Frauen noch immer wesentlich weniger als Männer. Dennoch bilden Frauen mit ihrer spezifischen Position in der Gesellschaft keine eigene Klasse: zu unterschiedlich sind die Klassenpositionen. Aber: Frauen besitzen nicht automatisch die Klassenposition der Männer. Vielmehr besetzen sie auf Basis ihrer unentlohnten Arbeit als Hausarbeiterinnen und ihrer eigenen Lohnarbeit eigene Klassenpositionen, die tendenziell etwas unter denen der jeweiligen Männer liegen, mit denen sie häufig gemeinsam haushalten.

Ökonomisch betrachtet eint in weit entwickelten kapitalistischen Gesellschaften die einzelne Frau mit anderen Frauen, dass sie für gewöhnlich mehr unbezahlte Reproduktionsarbeit leistet als Männer, die ansonsten die gleiche Klassenposition wie sie einnehmen. Das sagt allerdings noch nichts über das Ausmaß der geleisteten unbezahlten Arbeit aus, das sich stark unterscheiden kann. Das hängt auch davon abhängt, ob die jeweilige Frau einen Teil der ihr zugewiesenen Arbeit an eine dafür zu entlohnende Frau mit einer niedrigeren Klassenposition weitergeben kann, wie es in der massenhaften, größtenteils informellen Beschäftigung migrantischer Frauen in der häuslichen Pflege der Fall ist. Die Mehrarbeit im Privathaushalt, die die bezahlte Hausarbeiterin theoretisch mit ihrer Arbeitgeberin verbindet, tritt zurück hinter den Unterschied, dass ihre Chefin sich von den ihr zugeschriebenen Aufgaben auf ihre Kosten freikaufen kann.

4.2 Prekäre migrantische Arbeit

In weit entwickelten kapitalistischen Gesellschaften sind Migrant_innen in unattraktiven Arbeitsbereichen überproportional vertreten. Sie werden im Schnitt schlechter entlohnt, finden sich in mieseren Arbeitsbedingungen wieder, müssen die Drecksarbeit machen. Dass weiße Deutsche für diese weniger geeignet seien, wird häufig damit gerechtfertigt, dass sie besser »qualifiziert« seien. Tatsächlich werden selbst Menschen mit formal hohen Bildungsabschlüssen qua ihrer Migrationsgeschichte auf dem Arbeitsmarkt systematisch dequalifiziert. Wieder andere haben zwar formal hohe Bildungsabschlüsse, finden aufgrund der rassistischen Einstellungspraxis Diversity-zertifizierter Unternehmen dennoch keine guten Jobs. Andere sind bedingt durch ein rassistisches Schul- und Ausbildungssystem auf dem Arbeitsmarkt relativ chancenlos. Diese werden dann, wie sich am offensiven Werben (»Migranten in die Pflege«) deutlich zeigt, in Arbeitsbereiche gedrängt, die sonst kaum jemand machen will.

Wie durch gezielte von der Kapitalseite forcierte Migration eine Klassenfraktion entstehen kann, zeigt das Beispiel der ab den 1950er Jahren in Westdeutschland angeworbenen Arbeitskräfte aus Südeuropa und der Türkei. Die »Gastarbeiter« waren insgesamt politisch und gesellschaftlich ausgegrenzt sowie im Beruf ökonomisch schlechter gestellt und unsicherer beschäftigt als ihre deutschen Kolleg_innen. Es bildete sich eine Unterklasse heraus, die im Wesentlichen die Funktion einer nützlichen industriellen Reservearmee einnahm, die je nach konjunktureller Schwankung eingesetzt werden konnte. Diese »Unterschichtung« der Arbeiter_innenklasse in den 1960er und 1970er Jahren wirkt bis heute auf die soziale Zusammensetzung der Klassen in der Einwanderungsgesellschaft nach. Weil in Deutschland die soziale Herkunft maßgeblich für die soziale Stellung ist, finden sich die Nachfahren der »Gastarbeiter«-Generation weitaus häufiger in Arbeitslosigkeit oder schlechter bezahlten und prekären Berufen wieder.

Ähnliches ist der derzeit auch in Bezug auf Geflüchtete festzustellen, etwa wenn Wirtschaftsvertreter_innen die Aussetzung des Mindestlohnes für Geflüchtete fordern. Außerdem stellen Unternehmen gegenwärtig vor allem Migrant_innen aus anderen EU-Staaten über Leiharbeit oder das Dienstleistungsentsendegesetz juristisch legal zu extrem niedrigen Löhnen an. Dadurch wird zugunsten der Kapitalseite eine intensivere Ausbeutung der Arbeitskraft durch Verringerung der Produktionskosten erreicht. Die Kapitalseite senkt dadurch den Wert der Ware Arbeitskraft, weil sich ein Teil der Arbeiter_innen unter dem jeweils als „normal“ geltenden erreichten Niveau reproduzieren, also wohnen, leben, essen muss.

4.3 Imperialismus und Arbeiterklasse

Noch nie gab es weltweit absolut und relativ so viele Arbeiter_innen. Dennoch kann aktuell von einer weltweiten Arbeiter_innenklasse kaum die Rede sein, denn Wir leben in einer geteilten Welt. In Staaten wie Bangladesch und China werden die Produkte produziert, die hierzulande konsumiert werden. Produktion und Konsumtion fallen in der globalisierten Welt auseinander wie nie zuvor. Dem Aktivisten Torkil Lauesen zufolge ist deshalb ein gemeinsamer Kampf der Arbeiterklassen im globalen Süden und im Norden aufgrund dieser unterschiedlichen Voraussetzungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. In Ländern wie Südostasien, aber auch zum Teil in Osteuropa, kann unter schlechteren Arbeitsbedingungen und niedrigeren Löhnen produziert werden. Durch die niedrigeren Produktionskosten und die Verlagerung der Konsumtion in den anderen Teil der Erde entsteht das, was der Ökonom Donald Clelland als dark value (verborgener Wert) bezeichnet. Die Entstehung des dark values lässt sich am Beispiel der Textilproduktion in Bangladesch verdeutlichen. Dort schuften vor allem weibliche Arbeiter_innen und Minderjährige bis zu 16 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, meist für 3000 Taka pro Monat, umgerechnet nicht mehr als 35 EUR. Ihr Lohn geht zu einem großen Teil für die Miete und Verpflegung drauf. Die Waren, die dann beispielsweise in Deutschland verkauft werden, verschaffen der Kapitalseite eine höhere Profitrate. Doch auch die hiesigen Konsument_innen, egal ob Arbeiter_innenklasse, Mittelklasse oder Bourgeoise profitieren von den billigeren Preisen. Klamotten, die in Deutschland produziert werden, sind aufgrund des ungleichen Lohnniveaus wesentlich teurer.

Gerade weil die Industrialisierung der aktuell industrialisierten Staaten in Südostasien auf Warenproduktion für den Export in die ehemaligen Industriestaaten in Europa und Nordamerika fokussiert ist, sind Angleichungen an das Lohnniveau in Westeuropa nicht zu erwarten? trotz der zunehmenden Arbeitskämpfe. Aufmüpfige Arbeiter_innen können einfacher ausgetauscht werden. Zudem werden die Arbeiter_innen nicht als Konsument_innen der von ihnen produzierenden Waren benötigt. Einen auf Massenproduktion und Massenkonsum (am selben Ort) basierendes Modell des Kapitalismus fehlt die materielle Basis.

Zwar haben Arbeiter_innen im Norden und im Süden abstrakt ein gleiches Interesse (Vergesellschaftung der Produktionsmittel), aber auf konkreterer Ebene profitieren auch die hiesigen Fraktionen der Arbeiterklasse von der geteilten Welt. Selbst der Lebensstandard eines Langzeitarbeitslosen, der seit Jahren unterhalb der (relativen) Armutsgrenze leben muss, ist deutlich höher als der einer Näherin in Bangladesch oder einer Arbeiterin in einer Smartphone-Schmiede in China. Hinzu kommt, dass trotz des Abbaus des Wohlfahrtsstaates der hiesige (Sozial-)Staat seinen Staatsangehörigen eine relative Absicherung zum Zwecke der sozialen Befriedung in Aussicht stellt.

5. Von der Spaltung zur Gegenmacht

Aufgrund dieser materiellen Ausgangslage ist es so schwer, einen umfassenden Klassenkampf zu entfalten. Die Kapitalseite versteht es bestens, die Fraktionen der Arbeiter_innenklasse ideologisch und strukturell zu spalten. Damit die Klassenkämpfe endlich auch von unten geführt werden und Arbeiter_innen und Unterdrückte zusammenfinden, müssen wir den Einfluss der Geschlechterverhältnisse, der rassistischen Verhältnisse und des Imperialismus auf die Zusammensetzung der Arbeiter_innenklasse zum Ausgangspunkt der Analyse machen.

Um ein Gemeinsames herstellen zu können, müssen wir die historisch spezifischen Situationen erkennen, wo sich Klassenlagen überschneiden, ähneln oder einander bedingen. Ein häufig herangezogenes Beispiel ist das der von Migrant_innen getragenen wilden Streiks Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahrein Westdeutschland. Sie sind nicht zustande gekommen oder gar auch noch erfolgreich gewesen, weil die Verhältnisse damals weniger schlimm als heute waren, sondern weil Situationen hergestellt wurden, in denen die strukturelle Spaltungen der Belegschaften nach Qualifikation, Lohngruppen, Lebensumstände, Geschlecht oder Aufenthaltsstatus überwunden werden konnten.

Wir sehen auch heute in den selbstorganisierten, autonomen Kämpfen die Ansatzpunkte für den Klassenkampf von unten. Wesentliches Kampfmittel ist dabei weiterhin der Streik, denn er ist das ökonomisch stärkste Mittel, das der Arbeiter_innenklasse zur Verfügung steht. Grundsätzlich stehen wir daher jedem Streik zunächst positiv gegenüber, egal ob es ein regulärer Streik, wilder Streik, politischer Streik oder Generalstreik ist. Wie Streiks heute aussehen können, ob es sinnvoll ist, Streiks nicht mehr nur im Betrieb, sondern gesellschaftlich zu führen, wie die Spaltungen der Belegschaften, wie die Reproduktionsarbeit, wie die unterschiedlichen Bedingungen der Arbeiter_innenklasse im Zentrum und in der Peripherie verbunden werden können, sind die drängendsten Fragen, wenn es darum geht, den Klassenkampf von unten zu organisieren. Antworten zum Sturz des Kapitalismus finden wir nicht am Reißbrett, sondern durch die Praxis unserer Intervention in diesen Kämpfen.

„Es herrscht Klassenkrieg und meine Klasse gewinnt“ sagt Warren Buffett, einer der reichsten Milliardäre der Welt. Es wird Zeit gemeinsam zurück zu schlagen und alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist!

- radikale linke | berlin / April 2016