In den letzten Wochen eskalierte die Lage in Syrien und im Anschluss auch an Europas Außengrenzen. Erneut wird deutlich, dass in unserer globalisierten Welt alle Probleme, mit denen wir uns als revolutionäre Linke beschäftigen auch global analysiert werden müssen und genauso global muss unser Widerstand sein. Was ein Luftschlag in Syrien mit der Festung Europa zu tun hat und welche Aufgaben für uns daraus erwachsen, ein Erklärungsversuch.
Fangen wir am relativen Anfang dieser neuen Krise an. Ende Februar spitzte sich die Lage in der syrischen Provinz Idlib schnell zu, die Türkei und die von ihr unterstützten dschihadistischen Banden von Al-Qaida und HTS verloren immer größere Stücke der letzten Großen „Rebellen“-Hochburg an die syrische Armee und ihren Verbündeten Russland. Dann trifft ein gezielter Luftschlag eine Stellung türkischer Soldaten, Dutzende sterben, Hunderte werden verletzt und der türkische Diktator Erdogan greift zum Äußersten: Er fordert die NATO auf, ihm Beistand zu leisten, also ein Bündnissfall nach Artikel 5 der NATO soll eintreten. Da außer – absurder - Solidaritätsbekundungen der NATO-Partner keine direkte militärische Unterstützung kommt, setzt die AKP-Regierung das größte Druckmittel ein, was sie gegen einen großen Teil der NATO – die EU – hat. Die etwa drei Millionen syrischen Geflüchteten, die die Türkei seit Beginn des Bürgerkrieges aufgenommen hat.
Am 28. Februar ließ die türkische Regierung verlautbaren, dass sie sich ab sofort nicht mehr an den sogenannten „Flüchtlingsdeal“ mit der Europäischen Union gebunden sehe. Dieser regelte – lässt man den ganzen Diplomatenunsinn weg – dass die Türkei dafür verantwortlich ist, die syrischen Flüchtlinge möglichst weit von Europa fernzuhalten. Im Gegenzug erhielt der türkische Staat milliardenschwere „Hilfsleistungen“ welche den Flüchtlingen zugute kommen sollten. Erdogan nutzte das Geld hingegen um den Bau einer festen Grenzmauer zu Syrien zu finanzieren und so Nordkurdistan von Westkurdistan physisch zu trennen.
Seit Aufkündigung des „Flüchtlingsdeals“ hindert die Türkei Geflüchtete nur nicht länger daran, nach Europa zu gehen, sie fährt sie mit Bussen bis an die Grenzen und hindert sie nicht an der Aus – wohl aber an der Wiedereinreise. Tausende Geflüchtete, die so versuchten den Landweg nach Europa zu nutzen befinden sich seitdem im Niemandsland zwischen der Türkei und Griechenland. Die Bilder von frierenden Familien, weinenden Kindern, Wut und Verzweifelung sind überall zu finden. Die griechische Polizei geht mit Wasserwerfern, Tränengas und Schockgranaten gegen die Hilfesuchenden vor und ließ die Armee in Alarmbereitschaft versetzen und kündigte bereits an, im März keinerlei Asylanträge anzunehmen. Bulgarien verstärkte ebenfalls seine Grenztruppen.
Menschen die versuchten auf dem Seeweg nach Europa zu gelangen, werden am Anlegen gehindert. Auf Lesbos hält ein rassistischer Mob die Anlegestellen und Berichten zufolge auch Teile des Inlandes besetzt und setzte bereits mindestens eine Institution der Flüchtlingshilfe in Brand. Auch Mitarbeiter*innen von NGO‘s und Journalist*innen wurden angegriffen.
Auf dem Seeweg ist bereits ein Kind ertrunken und im Niemandsland wurde ein Mann erschossen. Wenn Europa für irgendwen noch etwas vom Selbstbild der Schützerin der Menschenrechte und Beispiel für eine freie, in die Zukunft gerichtete Welt hatte, spätestens jetzt muss dieses Bild gefallen sein. Europa zeigt, wie schon 2015, seine hässlichste Fratze und Zeitungen berichten in anbetracht von ein paar Tausend Hilfesuchenden an Europas Außengrenzen von einer „Abwehrschlacht“ der Griechischen Sicherheitskräfte. Wurde es bisher nur impliziert wird es mittlerweile ganz offen gesagt: die, die da kommen, sind Feinde unserer Gesellschaft, sie bedrohen „unseren“ way of life und noch schlimmer, „unseren“ Wohlstand. Es ist jedes Mittel recht, um sie davon abzuhalten nach Europa zu kommen.
Nichts an der aktuellen Siutation in Syrien lässt auf eine Entspannung der Lage schließen, die AKP-Diktatur Erdogans ist zum offenen Krieg gegen das Assad-Regime übergegangen und Russland hat den Luftraum über Syrien für die türkische Luftwaffe teilweise geöffnet. Daran ändert auch das neuerliche Abkommen zwischen Erdogan und Putin nichts, welches eine Waffenruhe und gemeinsame Patrouillien an zwei wichtigen Fernverkehrsstraßen bringen soll. Schon nach wenigen Stunden gab es wieder kleinere Gefechte. An Fluchtursachen mangelt es also nicht.
Die Möglichkeit, die Grenzen zu öffnen ist Erdogans stärkstes Erpressungswerkzeug gegen die Herrschenden Europas. Die wiederum sind dagegen wehrlos, der fortlaufende Faschisiserungsprozess trägt dafür Sorge, dass kaum eine Angst größer ist, als die vor „Überfremdung“, „Islamisierung“ oder dem „großen Austausch“. Dementsprechend ist für die Herrschenden auch kein Preis zu hoch, um das zu verhindern. Protestierten vor wenigen Jahren noch die meisten Politiker*innen pflichtbewusst, als Alice Weidel auch auf Frauen und Kinder an der Grenze schießen lassen zu wollte, ist genau das nun die Realität an den Außengrenzen der EU.
Der Krieg in Syrien ist eine der zentralen Fluchtursachen. Ein Krieg der von den imperialistischen Ländern aktiv forciert wurde um Rohstoffe und geostrategisch wichtige Einflussgebiete zu sichern. Erdogan verfolgt in diesem Kontext zudem eine gezielte Annektionspolitik syrischen Staatsgebiets mit dem Wunsch der Herstellung der ehemaligen Grenzen des osmanischen Reiches. Für den Krieg, den er seit Jahrzehnten gegen die Kurd*innen und andere Bevölkerungsgruppen in der Türkei, im Irak und in Syrien führt und nun auch offiziell gegen das syrische Regime führt, ist er auf die Unterstützung bzw. mindestens aktive Duldung der europäischen Staaten sowie der NATO angewiesen, die er nach aller Kraft versuchen wird zu erpressen, da die AKP-Diktatur die relative innere Stabilität mit einem permanenten äußeren Kriegszustand erkauft.
Bleibt also die alte Frage: Was tun?
In einer solchen Situation dürfen wir hier in den kapitalistischen Zentren Europas und der BRD nicht untätig bleiben. Als revolutionäre Linke in der BRD muss uns klar sein, dass mit Appellen an den Staat und seine Institutionen für mehr „Humanität“ nichts aber nun wirklich gar nichts zu gewinnen ist. Weder für die Geflüchteten noch für eine revolutionäre Perspektive hier. Wir können den Geflüchteten und uns nur selber helfen, in einem gemeinsamen Kampf und Widerstand gegen Rassismus, Grenzregieme und Ausbeutung. Im Rahmen von unseren (teilweise bereits existenten) Selbstorganisierungen sollten wir den Aspekt der Selbstverteidigung gegen diese Angriffe intensiver diskutieren und Praxis werden lassen. Der faschistischen Gewalt und der des Staates können wir mit organisierten Selbstverteidigungskomitees in unseren Kiezen/Städten entgegentreten. Einerseits durch den Aufbau und das weiterentwickeln unserer eigenen Stärke gemeinsam mit den migrantischen Communities in der BRD und andererseits durch den Aufbau strategischer Zusammenarbeiten mit den fortschrittlichen Kräften der Peripherie.
Wir können Grenzzäune demontieren, Geflüchtete bei der Einreise, dem Ankommen und der Unterbringung unterstützen. Auf der Arbeit, in der Schule, Uni oder in unseren Nachbarschaften können wir Menschen davon überzeugen, der rasssistischen Hetze die die Menschen spalten soll nicht uaf den Leim zu gehen.
Zudem gilt es in der BRD den Kampf gegen die Fluchtursachen produzierende Kriegsmaschinerie zu intensivieren, auf den verschiedensten Ebenen, mit den verschiedensten Partnern.
Gegen die Festung Europa!
Fluchtursachen bekämpfen heißt den internationalistischen und antimilitaristischen Widerstand aufzubauen!
radikale linke | berlin im März 2020